Die Autorin und Journalistin Dr. Susanne Kaiser sprach mit uns zu politischer Männlichkeit, dem Backlash und Frauenhass im Netz. Kaiser beschäftigt sich seit 20 Jahren mit den Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen in muslimischen und westlichen Gesellschaften. 2023 erschien ihr Buch «Backlash. Die neue Gewalt gegen Frauen». Was sind die grossen Herausforderungen für die Frauenrechte? Und was erwartet Kaiser konkret von gesetzgebenden Behörden?
Liebe Susanne, du sprichst vom «autoritären Backlash».
Wie würdest du diesen Begriff definieren, und welche Dynamiken beobachtest du aktuell in Europa und den USA?
Der autoritäre Backlash findet auf ganz vielen Ebenen statt: Politisch, digital, im Netz, in den sozialen Medien und in den eigenen vier Wänden. Studien zeigen, dass gerade junge Männer wieder eher rechtspopulistisch wählen und das Bedürfnis nach autoritärer Führerschaft steigt. Den tatsächlichen Backlash können wir in den höchsten politischen Ämtern sehen, wo er sich schon seit vielen Jahren zusammengebraut hat.
Studien zeigen, dass die Gen Z zweigeteilt ist, es also eigentlich zwei Generationen sind: Einerseits junge Männer, die wieder konservativere Weltbilder vertreten und rechts wählen und andererseits junge Frauen, die progressiv eingestellt sind und eher links wählen.
Wir sehen, dass Gewalt gegen Frauen genau in den Bereichen steigt, in denen der Feminismus Rechte erkämpft hat: Digitale Gewalt nimmt exponentiell zu insbesondere gegen Politikerinnen, Aktivistinnen, Journalistinnen. Es handelt sich hierbei fast immer um sexualisierte Gewalt, das heisst, es geht darum, Frauen auf ihren Körper zu reduzieren und in den Bereich der Reproduktion zu verweisen. Wir sehen auch, dass Männer gewalttätiger mit ihren Partnerinnen umgehen. Die Femizid-Rate hat sich dramatisch erhöht. Aber auch andere Gewaltdelikte, die feministischen Errungenschaften wieder zurückdrehen, steigen. Zum Beispiel Stalking und Spy Apps. Hier geht es darum, Frauen zu kontrollieren.
In den USA ist ein antidemokratischer, verurteilter Sexualstraftäter von einer grossen Mehrheit der Menschen zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt worden. Donald Trump hat das 50 Jahre alte Abtreibungsrecht zurückgedreht. Er hat die Rechte der queeren Community so massiv beschränkt, dass diese Menschen um ihre Gesundheit und ihr Leben fürchten müssen. In Europa sehen wir ähnliche Entwicklungen. In Deutschland mit dem starken Zuspruch für die AfD, die auch Abtreibung verbieten will, und mit einer Vermännlichung von Politik. Friedrich Merz sagt kurz vor der Wahl, er würde lieber keine Ministerinnen ernennen, weil er Frauen auch vor dem eigenen Scheitern schützen muss. Wir sehen, wie die nordischen Demokratien, einst feministische Vorbilder, von den Mitte-Rechts-Lagern abgelöst wurden – etwa Schweden oder Finnland.
Inwiefern siehst du in Europa Parallelen zu den Entwicklungen in den USA, und was sind die besonderen Herausforderungen für Frauenrechte in Europa?
Ich sehe in Europa grosse Parallelen zu den USA, denn zeitversetzt und unter anderen Bedingungen kommt das meiste aus den USA auch bei uns an. Jede noch so absurde Verschwörungserzählung wie beispielsweise diese ganze QAnon-Bewegung. Es gibt in Europa zwar besondere Gegebenheiten, allein schon aufgrund der faschistischen Vergangenheit, aber letztlich haben sich die Herausforderungen, was Frauenrechte angeht, globalisiert. Entscheidende Treiber sind soziale Medien und das Internet allgemein.
In Zeiten von Identitätspolitik und der Politisierung von Männlichkeit gibt es eine grosse Anschlussfähigkeit der Male Supremacy Szene zu anderen Bewegungen, die das Patriarchat restaurieren, Privilegien zurückerlangen und die die dominante Führungsrolle behalten wollen. Das sind Gruppierungen, die meinen, dass Männer mehr wert sind und auch mehr können als Frauen. Andere autoritäre Strömungen, vor allem Rechtsextreme, religiöse Hardliner und Fundamentalisten können dieser Idee von männlicher Dominanz viel abgewinnen. Die Gruppen haben einen kleinsten gemeinsamen Nenner, der sie auch untereinander so anschlussfähig macht: Frauen wieder auf den untergeordneten Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie zurückzuverbannen, in den reproduktiven Bereich, nach Hause zu den Kindern, in die Küche, ins Ehebett.
Welche Rolle spielen männlich geprägte Machtstrukturen bei diesem Backlash?
Männlich geprägte Machtstrukturen spielen eine grosse Rolle, weil sie den Backlash überhaupt möglich machen. Männlich geprägte Machtstrukturen konnten strukturell nicht überwunden werden und so wirkt das Patriarchat faktisch an so vielen Stellen weiter.
Dass so viele, gerade auch junge Männer sich daran beteiligen, liegt an der grossen Kluft und dem gesellschaftlichen Spannungsfeld bei den Machtverhältnissen.
Eine Kluft zwischen dem, was ich die diskursive Überwindung des Patriarchats und das faktische Fortbestehen nenne.
Das heisst, auf der einen Seite gibt es so etwas wie Frauenquoten, Förderprogramme, gendergerechte Sprache. Wir hatten einen gesamtgesellschaftlichen Konsens, der Mainstream war: Frauen können genauso viel, sind genauso viel wert. Sie galten als gleichberechtigt. Faktisch war das aber noch lange nicht erreicht. Die wichtigsten Gender Gaps bestehen einfach fort, am stärksten ausgeprägt der Gender Care Gap. Männliche Karrieren werden noch immer auf dem Rücken der unbezahlten Care-Arbeit von Frauen erreicht. Es gibt nach wie vor den Gender Pay Gap und auch den Pension Gap. Frauen gehören immer noch zu den ärmsten Menschen, sie sind öfters von Armut betroffen, als Rentnerinnen oder als Alleinerziehende mit ihren Kindern.
Männer sehen aber nur: Es gibt Quoten. Es gab eine Kanzlerin in Deutschland, eine Aussenministerin, Innenministerin. Frauen sind doch überall und sie sind erfolgreich. Das ist aber keine tatsächliche Gleichberechtigung. Und dieses Spannungsverhältnis fühlt sich an wie ein Kontrollverlust. Viele fühlen sich individuell benachteiligt durch die Quote, sehen aber nicht, dass sie strukturell nach wie vor privilegiert sind. Dieser Fakt bleibt unsichtbar.
« When you’re accustomed to privilege, equality feels like oppression.»* Dieser Spruch fasst diesen männlichen Kontrollverlust oder dieses Gefühl des Kontrollverlusts ganz gut zusammen.
Inwiefern tragen religiöse Narrative zu einem kulturellen Klima bei, das Frauenfeindlichkeit normalisiert oder sogar fördert?
Religiöse Narrative trugen schon immer zu einem kulturellen Klima bei, in dem Frauenfeindlichkeit normalisiert oder sogar gefördert wird. In allen abrahamitischen Religionen ist die Frau gegenüber dem Mann als minderwertig dargestellt - oder zumindest wird es so ausgelegt. Die ganze Kultur im Patriarchat begründet sich darauf.
Allein die biologistische Vorstellung vom binären System: Sie legitimiert Frauenfeindlichkeit und sexistische misogyne Ideen. Frauen und Männer, die biologisch oder gottgewollt unterschiedlich seien und deshalb Hierarchien auch „natürlich“ seien: Die gebärfähige und deshalb fürsorgliche Frau hier, der starke, schützende, vernünftige Mann dort. Männer herrschen über Frauen, weil sie die Familie beschützen und für die Familie sorgen müssen.
Das Praktische an dieser Argumentation ist, dass Frauen nicht mehr von Männern im Patriarchat unterdrückt werden, sondern von der Natur oder weil es gottgewollt ist. Mit diesem religiösen Narrativ kann man Frauen ans Kinderkriegen und Kindererziehen binden, was sich ganz gut mit rechtsextremen Narrativen verträgt. Dazu kommt, dass der Feminismus in vielen religiösen Narrativen – zum Beispiel bei katholischen Hardlinern in Polen, Frankreich, Italien oder bei der evangelikalen Bewegung in den USA – als eine Art gesellschaftliche Verschwörung gilt. Das führt dann zu absurden Kausalketten:
Frauen, die über sich selbst und ihre Körper entscheiden, wählen lieber eine Karriere oder werden lesbisch. Die wollen keine Kinder mit weissen Männern und sind deshalb schuld an niedrigen Geburtenraten oder dass die «weisse Rasse» ausstirbt oder gleich die ganze Menschheit.
Welche Schritte und Strategien sollten zivilgesellschaftliche Organisationen, aber auch der Gesetzgeber, aus deiner Sicht ergreifen, um Frauenrechte besser zu schützen?
Gegenrede im Netz ist wichtig. Ich finde es aber schwierig zu sagen, welche Schritte und Strategien zivilgesellschaftliche Organisationen ergreifen sollten, weil die finanziell unter dem Rechtsruck sehr zu leiden haben und die eigentliche Aufgabe der Politik zukommt.
Ich hätte einen klaren Auftrag für den Gesetzgeber: Gewalt gegen Frauen muss geahndet werden. Das passiert zu wenig, ob auf der Strasse oder im Netz. Dabei tragen soziale Medien entscheidend dazu bei, dass enthemmte sexualisierte Gewalt gegen Frauen stattfindet. Durch soziale Medien hat Alpha-Männlichkeit eine extreme Reichweite, diese ganzen misogynen Coaches – egal ob für Dating, Finanzen, Fitness. Bei TikTok liegt der Altersdurchschnitt zwischen 13 und 19, die Plattform ist auch die Newsapp von jungen Leuten. Der Radikalisierungsalgorithmus sorgt dafür, dass die krassesten Posts die krasseste Reichweite erzielen. So geraten Jugendliche automatisch in eine Echokammer. Sie sind vor diesen Diskursen in den sozialen Medien nicht geschützt, weil die Plattformen sich nicht an demokratische Regeln halten.
Es wird immer gesagt: Soziale Medien sind ein Ort der Meinungsfreiheit. Aber tatsächlich geht es da um Hate Speech, Hetze und digitale Gewalt. Eine Handvoll Tech-Milliardäre haben diese Algorithmen programmiert – nach deren Willen und nicht nach unseren demokratischen Regeln. Das ehemalige Twitter ist heute die Propagandamaschine von einer einzigen Person. Wir als Demokratien haben davon nichts ausser die sozialen und finanziellen Kosten. Wir sollten diese Plattformen verbieten, wenn wir sie nicht regulieren können. Um sie auf diese Weise zu zwingen, demokratische Regeln einzuhalten. Eine andere Möglichkeit wäre es, in Europa alternative soziale Medien zu entwickeln. Ein guter Name wäre vielleicht Twitter, der ist ja wieder zu haben.
Ich glaube, dass wir in den sozialen Medien anfangen müssen, Frauenrechte zu schützen. Es ist der Ort, wo sie am meisten bedroht werden.
Welche Faktoren tragen heute zur Radikalisierung von misogynen Ansichten bei, und wie wird Frauenhass in populistischen oder autoritären Ideologien genutzt?
Er wird zum einen als symbolischer Klebstoff genutzt, wie die Genderforscherin Andrea Pető sagt. Über Frauenhass kommen viele zusammen, vernetzen sich, machen ihre Ideologien anschlussfähig. Das sieht man auch an der Ideologie des grossen Austauschs. Zum anderen kann man Frauenhass gut instrumentalisieren und damit mobilisieren. Indem man zum Beispiel gegen gendergerechte Sprache hetzt. Denn die Politik führt nicht nur endlose Debatten darüber, sondern zeigt mit Verboten auch, wie sehr solche Scheindebatten verfangen. Auch das Gerede über die traditionelle Familie oder Kleinfamilie ist etwas, das als Narrativ zutiefst misogyn ist. Weil Männer und Frauen hier per se nicht gleichberechtigt gedacht werden. Und das Perfide daran ist: Es klingt erst mal harmlos - echte Männer, echte Frauen. Aber wenn man das weiterdenkt, kommen damit faschistische Ideologien eben durch die Hintertür wieder in die Breite unserer Gesellschaft und radikalisieren die Mitte. Das heisst, wenn wir das erst mal einsickern lassen, dass Männer und Frauen nicht gleich sind und nicht gleichwertig, sind wir schnell wieder dabei, dass queere Menschen queere Lebenswirklichkeiten widernatürlich oder beispielsweise gegen die göttliche Ordnung sind.
* Ruth Bader Ginsburg gilt als Initiantin dieses Statements, welches von Personen des öffentlichen Lebens immer wieder leicht verändert übernommen wurde.
Das Interview führte die Geschäftsstellenleiterin Jana König.
Dr. Susanne Kaiser ist Journalistin und Autorin. Sie schreibt, liest und spricht unter anderem für Die ZEIT, DER SPIEGEL und Deutschlandfunk Kultur. Sie ist als Expertin bei Arte, WDR, SWR, ZDF und ARD oder Pro7 und RTL zu sehen und berät Politik und Sicherheitsbehörden.
2023 ist ihr Buch „Backlash. Die neue Gewalt gegen Frauen“ bei Tropen erschienen, 2020 bei Suhrkamp "Politische Männlichkeit. Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen". Zurzeit arbeitet sie an einer feministischen Krimireihe für Rowohlt. Teil 1 «Riot Girl» erscheint im April 2025.
In den letzten Jahren beschäftigt sie sich vor allem mit neu aufkommenden Phänomenen wie organisiertem Frauenhass und reaktionären Angriffen auf die Demokratie durch antifeministische Mobilisierung.