Nr. 2 / 2024

Magazin Standpunkt

Kann Religion eine Ressource im Kampf gegen Unterdrückung sein?

Religiöse Dogmen müssen hinterfragt werden.

Wir sprachen mit Prof. Dr. Elham Manea, die sich in ihrer Arbeit als Politikwissenschaftlerin, Publizistin und Aktivistin auf den arabischen Nahen Osten spezialisiert hat, über islamistisch-feministische Bewegungen und die Grenzen religiöser Dogmen. Was bedeutet rechtliche und tatsächliche Gleichstellung in arabischen Ländern und was gibt es aus ihrer Sicht in der Schweiz in Sachen Gleichstellung noch zu tun? Kann Religion eine Ressource im Kampf gegen Unterdrückung sein?

Liebe Elham, welche emanzipatorische Potenziale liegen in Religionen?

Religionen können ein wichtiges emanzipatorisches Potential haben, wenn sie von progressiven und kontextuellen Interpretationen begleitet werden. Im Islam nutzen islamisch-feministische Bewegungen den Koran, um patriarchale Strukturen in Frage zu stellen und die Gleichberechtigung der Geschlechter zu fördern. Diese Bewegungen zeigen, dass Religion, wenn sie aus der Perspektive von Gerechtigkeit und Gleichheit interpretiert wird, eine starke Ressource im Kampf gegen Unterdrückung sein kann.
 

Gleichzeitig müssen die Grenzen religiöser Dogmen anerkannt werden, insbesondere wenn es um die Rolle der Frau in der Gesellschaft und ihre Rechte geht. Traditionelle religiöse Interpretationen neigen dazu, Frauen in eine untergeordnete Position zu drängen, indem sie ihre Rolle auf häusliche Pflichten und Gehorsamkeit beschränken. Diese Dogmen können tief verwurzelte patriarchale Normen aufrechterhalten und die Gleichstellung behindern. Sie dienen oft dazu, soziale Hierarchien zu legitimieren, die Frauen marginalisieren und ihre vollen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte einschränken.
 

Daher ist es entscheidend, diese Dogmen kritisch zu hinterfragen und alternative, geschlechtergerechte Interpretationen zu fördern. Nur so können Religionen ihr emanzipatorisches Potenzial voll entfalten, indem sie nicht nur spirituellen Halt bieten, sondern auch als Instrument zur Überwindung von Ungerechtigkeit und zur Förderung der Gleichberechtigung dienen. Die Herausforderung besteht darin, den spirituellen und moralischen Kern der Religion zu bewahren, während gleichzeitig die diskriminierenden Aspekte der Tradition überwunden werden.

Kannst du uns in wenigen Sätzen die islamische Frauenbewegung in der Schweiz beschreiben?
 

In der Schweiz existiert keine einheitliche islamische Frauenbewegung. Es gibt jedoch mehrere herausragende Persönlichkeiten wie Jasmina El Sonbati, Amira Hafner, und Rifa‘at Linzen, die sich intensiv mit den Rechten muslimischer Frauen in der Schweiz auseinandersetzen und in diesem Bereich tätig sind.

Es ist zudem wichtig zu betonen, dass «muslimische Frauen» in der Schweiz nicht als homogene Gruppe betrachtet werden sollten. Sie sind in erster Linie Schweizer Bürger:innen und tendieren dazu, sich eher im Rahmen der allgemeinen Schweizer Frauenbewegung zu engagieren, als eine separate islamische Frauenbewegung zu bilden. Diese Frauen arbeiten innerhalb der breiteren Gesellschaft, um ihre Rechte und Gleichstellung zu fördern, und nehmen aktiv an den gesellschaftlichen und politischen Diskursen der Schweiz teil, ohne sich ausschließlich auf ihre religiöse Identität zu beschränken.

Interview mit Prof. Dr. Elham Manea

«Die Herausforderung besteht darin, den spirituellen und moralischen Kern der Religion zu bewahren, während gleichzeitig die diskriminierenden Aspekte der Tradition überwunden werden.»

Prof. Dr. Elham Manea

In vielen arabischen Staaten haben Frauen bereits in den 1950er und 60er Jahren das aktive und passive Wahlrecht erhalten. Wie erklärt es sich, dass Frauen in den meisten arabischen Ländern rechtlich gleichgestellt sind, sie im Privatleben aber traditionellen Rollenvorstellungen unterliegen?

Das Phänomen, dass Frauen in vielen arabischen Staaten rechtlich gleichgestellt sind, aber im Privatleben weiterhin traditionellen Rollenvorstellungen unterliegen, lässt sich durch die besonderen Merkmale des arabischen autoritären Staates erklären. In meinem Buch «The Arab State and Women’s Rights» argumentierte ich, dass der arabische Staat nach einer spezifischen «Logik» und «Muster» funktioniert, die direkte Auswirkungen auf seine Gender-Politik haben – sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich.
 

Ein wesentlicher Aspekt dieser Logik ist, dass der Staat zwar bereit war, Frauen politische Rechte wie das Wahlrecht zu gewähren, weil dies oft Teil einer staatlichen Modernisierungsstrategie war. Diese Rechte wurden jedoch häufig von oben herab, ohne ernsthafte feministische Bewegungen, gewährt, was bedeutet, dass die tatsächliche Umsetzung dieser Rechte in der Praxis oft limitiert blieb.
Andererseits ist der private Bereich, insbesondere das Familienrecht, nach wie vor stark in traditionellen und religiösen Normen verankert. Diese Gesetze, auch Personal Status Laws genannt, werden durch religiöse Interpretationen bestimmt, die auf patriarchalischen Strukturen basieren und Frauen in eine untergeordnete Rolle drängen. Die arabischen Staaten haben sich - mit den bekannten Ausnahmen* - weitgehend geweigert, diese Gesetze zu modernisieren, da sie als Teil der traditionellen Machtbasis des Staates betrachtet werden, die es ihm ermöglicht, den sozialen Frieden zu wahren und sich die Unterstützung konservativer, tribaler und religiöser Gruppen zu sichern.
Ein weiterer Punkt ist die «Überlebenslogik» des arabischen autoritären Staates, die dazu führt, dass der Staat in Fragen eingreift, die seine Macht stabilisieren, während er gleichzeitig vorsichtig ist, keine gesellschaftlichen Unruhen zu provozieren, indem er tief verwurzelte soziale Normen und Traditionen infrage stellt. Diese Zurückhaltung, die Familiengesetze zu reformieren, bedeutet, dass Frauen zwar im öffentlichen Raum Fortschritte machen können, im privaten Bereich jedoch weiterhin durch patriarchale Normen eingeschränkt werden.

Die Diskrepanz zwischen öffentlicher und privater Sphäre zeigt, dass Gleichstellung nur erreicht werden kann, wenn diese traditionellen Strukturen im privaten Bereich ebenfalls reformiert werden. Dies erfordert jedoch nicht nur gesetzliche Änderungen, sondern auch eine tiefgreifende gesellschaftliche Transformation, die patriarchale Einstellungen herausfordert und verändert.

Traditionelle Geschlechterrollen greifen auch in der Schweiz immer noch tief in die Gesellschaft ein. Welche christlich religiösen Motive könnten dies ermöglicht haben und gibt es Übereinstimmungen zu islamischen Denkansätzen?

In der Schweiz lässt sich einerseits ein Rückschlag gegen Feminismus verzeichnen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Andererseits erlebt der christliche Fundamentalismus in einigen Gemeinschaften in der Schweiz einen Aufschwung, der traditionelle Geschlechterrollen fördert und betont. Diese Bewegung propagiert oft eine Rückkehr zu konservativen Werten, bei denen die Frau in erster Linie als Ehefrau und Mutter definiert wird und sich dem Mann unterzuordnen hat.
 

Insgesamt zeigt sich ein gemeinsames Muster in allen Religionen, wenn sie in konservativen und fundamentalistischen Formen auftreten: Sie neigen dazu, Frauenrechte einzuschränken und traditionelle Geschlechterrollen zu verstärken.


Diese Strömungen, ob im Christentum, Islam oder einer anderen Religion, tragen dazu bei, soziale Hierarchien zu legitimieren, die Frauen in eine untergeordnete Position drängen und ihre Rechte und Freiheiten einschränken.

Was braucht es deiner Meinung nach, um die tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter in der Schweiz zu realisieren?

Um die tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter in der Schweiz zu realisieren, ist es entscheidend, sich gegen jede Form von Politik der Differenz zu stellen, die dazu führt, dass Frauenrechte im Namen von religiösen oder kulturellen Besonderheiten eingeschränkt werden. In meinem Buch «Frauen und Scharia-Recht» argumentierte ich, dass die Einführung von Rechtspluralismus, der auf religiösen Gesetzen basiert, unweigerlich zu einer doppelten Diskriminierung von Frauen führt. Diese Praxis verstärkt bestehende patriarchale Strukturen und untergräbt die universellen Menschenrechte, insbesondere die Rechte von Frauen.
 

Es ist daher notwendig, dass die Schweiz an einem einheitlichen Rechtssystem festhält, das für alle Bürger:innen gleichermassen gilt, unabhängig von ihrer kulturellen oder religiösen Zugehörigkeit. Die Gesetze müssen auf den Prinzipien der universellen Menschenrechte basieren, die gleiche Rechte und Pflichten für alle gewährleisten, ohne Ausnahmen im Namen von Kultur oder Religion.
Um eine echte Gleichstellung zu erreichen, müssen darüber hinaus gesellschaftliche Einstellungen verändert werden.

Es ist wichtig, patriarchale Normen und Traditionen in Frage zu stellen, die Frauen in eine untergeordnete Rolle drängen. Dazu gehört auch die Förderung von Bildung und Bewusstseinsbildung, die die Bedeutung der Gleichberechtigung und die Gefahren von diskriminierenden Traditionen und Gesetzen hervorheben.

* Tunesien, Marokko

Das Interview führte die Geschäftsstellenleiterin Jana König.

Elham Manea


Prof. Dr. Elham Manea ist Titularprofessorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt arabischer Naher Osten, Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin.
Sie ist schweizerisch-jemenitischer Abstammung und lebt und arbeitet in der Schweiz.
Ihre Forschungsschwerpunkte sind Regionalpolitik auf der Arabischen Halbinsel, fragile Staaten in den Konfliktzonen der MENA-Region, insbesondere Jemen, Gender und Politik, Frauen unter muslimischem Recht und politischer Islam. Ihre Forschung basiert häufig auf Feldforschung in der Region und darüber hinaus.

Webseite Elham Manea