Menschliches Allmachtsverhalten in der Institution Kirche ist selten bewusst und wird kaum hinterfragt. Es ist nicht sofort sichtbar, denn Menschen, die so funktionieren, können sich zunächst in einer Gruppe sehr angepasst und unauffällig verhalten, bis sie ihr Netz gesponnen haben, um dann in aller Legitimität ungestört ihren Einfluss auszuüben.
Um diesen Mechanismus besser zu verstehen, seien hier einige Beispiele für missbräuchliches Verhalten genannt:
Der Anspruch, allwissend zu sein, die Wahrheit zu besitzen und immer im Recht zu sein.
Die Behauptung, sich niemals zu täuschen, die Durchsetzung des eigenen Standpunkts, die Geringschätzung von Diversität.
Immunität gegen Zweifel, Diskussion oder Infragestellung.
Die schleichende Tendenz, alle Rechte für sich zu beanspruchen, sich für ausserordentlich begabt zu halten und sein eigenes Gesetz durchzusetzen.
Die Einflussnahme dient dazu, der oder dem anderen seinen Stempel aufzudrücken, zum Objekt zu degradieren, seine Wünsche zu kontrollieren und ihn oder sie schliesslich zu brechen. Sie bereitet den Boden für alle Typen von Missbrauch: sexuellen, spirituellen und Machtmissbrauch. Der Urheber kann sich zudem oft noch auf das «Geheimnis» berufen, und seine geduldig ausgebaute Machtstellung hindert das Opfer daran, aufzubegehren und Meldung zu erstatten.
Die Versuchung, sich auf die Allmacht Gottes zu berufen, kann in gewissen Gemeinschaften dazu führen, Personen mit menschlichem Allmachtsverhalten als von Gott gesandten Retter für ihre Probleme zu betrachten.
In den Kirchen ist ein solches Verhalten schwerer feststellbar als zum Beispiel in der Wirtschaft. Das gilt vor allem, wenn die Gemeinschaft von ihrem Selbstbild her tolerant und offen für alle sein will. Die Problematik ist komplex, denn sowohl die einzelnen Personen als auch ihre Beziehungen und die kollektiven Verhaltensmuster spielen hier eine Rolle. Deshalb sind die Ursachen gleichzeitig individuell, relational und systemisch, und die Lösungsansätze müssen alle diese drei Dimensionen berücksichtigen. Es gibt nicht die eine angemessene Antwort, sondern es müssen zur gleichen Zeit verschiedene Mittel für die Bewältigung bereitgestellt werden, von psychologischen und rechtlichen bis hin zu unterstützenden und heilenden liturgischen Mitteln.
«Für die Gemeinschaft ist es wichtig, eine kollektive Wachsamkeit gegenüber ‹zu perfekten› Mitgliedern zu entwickeln und sie als ‹Hoffnungsträger› zu betrachten. Ein einzelnes Mitglied, und sei es der Chef, darf niemals die Macht übernehmen und nur seine eigenen Ideen durchsetzen. Man sollte auch darauf achten, welche Mitglieder besonders heftiges Unverständnis oder übermässige Bewunderung hervorrufen. Die damit verbundene Schulung und Bewusstwerdung ist notwendigerweise schmerzhaft, weil sie zutiefst destabilisierend ist.»
Vize-Präsidentin Marie-Claude Ischer
Wie können wir in einer Gesellschaft, in der das Individuum immer mehr glaubt, die Wahrheit zu besitzen, andere Standpunkte berücksichtigen?
In diesem Zusammenhang sollten fünf Handlungsfelder etabliert werden:
1. Diejenigen schützen, die Schutz brauchen
2. Eine interne Gruppe bilden, die, wenn möglich, von externen Dritten begleitet wird
3. Die Urheber in Schach halten
4. vorbeugen
5. Gebet und Ritual.
Es handelt sich bei diesem Text um die gekürzte Fassung eines Vortrags, der im Mai 2024 auf der Tagung der Frauen- und Genderkonferenz EKS gehalten wurde. Der vollständige Vortrag (französisch) kann hier eingesehen werden.
Marie-Claude Ischer war bis im vergangenen August Ratspräsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Waadt. Seit Mai 2024 ist sie Vize-Präsidentin der femmes protestantes. Ischer ist Mediatorin und war mehrere Jahre im Leitungsteam eines Frauenhauses im Kanton Waadt. Von 2020 bis 2021 präsidierte sie die Untersuchungskommission zur Causa Locher.
LinkedIn-Seite Marie-Claude Ischer